Ein deutsches Gericht bestätigte das Urteil gegen einen ehemaligen KZ-Sekretär, heute 99 Jahre alt. Für die Familien der Holocaust-Opfer und -Überlebenden ein Zeichen dafür, dass die NS-Verbrechen niemals enden werden. Ein deutsches Gericht bestätigte am Dienstag (20.08.) das Urteil gegen einen ehemaligen NS-Konzentrationslagersekretär wegen seiner Beteiligung an Massenmorden.
Die fünfte Kammer des Bundesgerichtshofs, des höchsten Strafgerichtshofs des Landes, lehnte eine Berufung der ehemaligen Staatssekretärin Irmgard Furchner, heute 99, gegen ihr Urteil ab, das 2022 von einem Gericht in der norddeutschen Stadt Itzehoe verhängt wurde.
Das Gericht verurteilte ihn wegen seiner Beteiligung an 10.505 Mordfällen und fünf Mordversuchen zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe. Von Juni 1943 bis April 1945, als er zwischen 18 und 19 Jahre alt war, arbeitete er als Schreibkraft für den Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof in der Nähe der ehemaligen deutschen Stadt Danzig (heute Danzig, Polen).
Vor Gericht bekannte sich Furchner nicht zu den Todesfällen. Er sagte nur, dass es ihm leid täte, was passiert sei, und dass er es bereue, zu diesem Zeitpunkt in Stutthof gewesen zu sein. Seine Verteidigung ließ Zweifel aufkommen, ob der Angeklagte als junge Stenotypistin tatsächlich Beihilfe zum Handeln des KZ-Kommandanten geleistet hatte.
Mit der Entscheidung des Bundesgerichts ist der Fall abgeschlossen, sodass keine weitere Berufung mehr möglich ist. Der Fall gilt als einer der letzten Prozesse vor deutschen Gerichten wegen in Konzentrationslagern begangener Verbrechen.
Um Gerechtigkeit zu finden
Viele Menschen fragen sich, ob es sinnvoll ist, jemanden wegen in der Vergangenheit begangener Straftaten strafrechtlich zu verfolgen. Das deutsche Recht hat darauf eine klare Antwort: Das Verbrechen des Mordes und der Mittäterschaft endet nicht – diese Entscheidung wurde unter Berücksichtigung der in der NS-Zeit begangenen Verbrechen getroffen.
Darüber hinaus sagen Rechtsexperten, dass Prozesse wie der gegen den ehemaligen Minister wichtig für den Rechtsfrieden seien, weil das Gefühl bestehe, dass der Gerechtigkeit endlich Genüge getan sei. Die Angehörigen des Opfers haben dies mehrfach vor Gericht bestätigt. Ihnen geht es nicht um hohe Strafen für Kriminelle, sondern darum, dass diese Fälle endlich vor Gericht gebracht werden.
Dies wurde vom Internationalen Auschwitz-Komitee vorgeschlagen. „Für Überlebende deutscher Konzentrations- und Vernichtungslager hat diese Gerichtsentscheidung (sobre a ex-secretária) nicht nur symbolische Bedeutung“, sagte der Vizepräsident des Komitees, Christoph Heubner. „Sie hoffen insbesondere, dass alle Erinnerungen, Beobachtungen und Aussagen, die sie als überlebende Zeugen und Stimmen ihrer ermordeten Angehörigen gemacht haben, zu ihren Gunsten sind. -Die Feststellung der Wahrheit wird in der Entscheidung des höchsten Gerichts berücksichtigt.“
Angesichts der geringen Zahl von Nazi-Verbrechern, die in Deutschland vor Gericht stehen, seien Prozesse wie der heutige von entscheidender Bedeutung für das Gerechtigkeitsgefühl unter den Familien der Opfer und Überlebenden, fügte Heubner hinzu. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass viele andere NS-Verbrecher, die ebenfalls für die Tötungsapparate in den Konzentrationslagern verantwortlich waren, nie vor deutschen Gerichten verurteilt wurden. „Stattdessen können sie ihren Ruhestand in Ruhe genießen.“
Daher betrachteten Überlebende und Angehörige der Opfer die deutsche Justiz als „ein Zeichen standhafter Gerechtigkeit gegenüber ihnen und den Angehörigen der Getöteten“.
Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, erklärte, dass es für Holocaust-Überlebende „von größter Bedeutung ist, eine verspätete Form der Gerechtigkeit anzustreben.“ Das deutsche Gericht seinerseits sendete mit dem Urteil vom Dienstag ein klares Zeichen: „Auch fast 80 Jahre nach der Shoah nehmen die Verbrechen der Nazis kein Ende.“ Mord kennt keine Grenzen: weder rechtlich noch moralisch.“
Schuster sagt, dieser Satz sei wahr. „Hier geht es nicht darum, ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen. Wichtig ist, dass ein Krimineller die Verantwortung für seine Taten übernimmt und Worte für das Geschehene und seine Beteiligung findet.“ Umso gravierender sei sein „fehlendes Schuldeingeständnis“, symptomatisch für die Lage der meisten NS-Verbrecher, „die ihr Leben weiterleben konnten, ohne strafrechtliche Konsequenzen für ihre abscheulichen Verbrechen befürchten zu müssen.“
Der Prozess der Schuldakzeptanz
Der Psychologe Wolfgang Hegener sagte der Nachrichtenagentur KNA, auch 80 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes seien Prozesse wie der des ehemaligen Staatssekretärs von entscheidender Bedeutung für den Prozess der Schuld- und Verantwortungsübernahme in der deutschen Gesellschaft.
„Schuld, um das es hier geht, ist nicht determinierend, kann nicht fortgesetzt und nicht relativiert werden.“ Das ist sehr wichtig für eine Gesellschaft, in der es Beispiele gibt, die dazu beitragen, die ständige Projektion von Schuld und Verantwortung zu durchbrechen.“
Der Historiker Jens-Christian Wagner sagte dem NDR, dass dieser Prozess ein Anstoß für die deutsche Gesellschaft sein könnte, sich stärker auf die Verantwortung der „kleinen Fische“ in der Nazi-Todesmaschine zu konzentrieren.
„Natürlich kann es hilfreich sein, vor Gericht über den Betrieb von Konzentrationslagern zu sprechen – sie sind wie Uhren mit vielen kleinen Zahnrädern –, um zu verstehen, dass die Verbrechen nicht nur von ein paar Kriminellen an der Spitze begangen wurden, sondern dass diese nur funktioniert haben.“ wenn die Mehrheit der Bevölkerung mitmacht“, sagte Wagner.
Die Gesellschaft müsse den Mechanismen, die die NS-Verbrechen ermöglichten, mehr Aufmerksamkeit schenken, sagte Wagner. „Es ist einfach, die Trauer über die Opfer auszudrücken, wenn man sich nicht fragt, warum diese Menschen Opfer waren. Und es wird fast nie gemacht.“ Für ihn könnte die Verschiebung der Prozesse gegen NS-Verbrecher dazu beitragen, den Menschen bewusst zu machen, dass die Tötungen in Konzentrationslagern durch die bestehende Arbeitsteilung ermöglicht wurden.
Schuld sind auch die „kleinen Fische“.
Die Nazis errichteten und betrieben ein System von Konzentrations- und Vernichtungslagern, in denen Millionen Menschen getötet wurden. Männer, Frauen und Kinder wurden ermordet, die meisten davon Juden.
Mehrere hochrangige Kriminelle wurden vor Gericht gestellt, beispielsweise bei den berühmten Nürnberger Prozessen. Doch in Wirklichkeit lebten viele hochrangige Menschen wie kleine Fische in der Nazi-Todesmaschine unbehelligt weiter.
Vielen anderen gelang die Flucht in andere Länder. Die Hauptziele sind Südamerika, insbesondere Argentinien und Brasilien. Unter denen, denen die Flucht nach Südamerika gelang, befanden sich auch wichtige Nazi-Persönlichkeiten: Josef Mengele, Klaus Barbie, Franz Stangl, Walter Rauff und Adolf Eichmann.
Bis Anfang der 2000er Jahre wurden lediglich etwa 6.700 Menschen wegen Beteiligung an NS-Verbrechen verurteilt. Zum Vergleich: 1945 hatte die NSDAP etwa 8 Millionen Mitglieder. Und mehr als eine Million Menschen gehörten der SS an, der paramilitärischen Organisation der NSDAP und Hauptverantwortlichen für die völkermörderische Politik Nazi-Deutschlands.
Aber es gibt einen Fall, der diese Geschichte ein wenig verändert. Dies ist der Fall des Ukrainers John Demjanjuk, eines ehemaligen Wachmanns im Nazi-Konzentrationslager Sobibor im besetzten Polen.
2011 wurde er wegen Beteiligung an der Ermordung Zehntausender Juden in Gaskammern verurteilt.
Bevor ein Urteil gegen Demjanjuk gefällt wird, gilt in Deutschland folgende Rechtsgrundlage: Es muss nachgewiesen werden, dass der Angeklagte eine bestimmte Straftat gegen ein bestimmtes Opfer begangen hat und dass die Tatmotivation rassistischer Natur war.
Das macht die Sache sehr schwierig. Ein Staatsanwalt muss Zeugen oder Beweise für einen bestimmten Mord finden. Doch im Fall Demjanjuk verurteilte ihn das Gericht nur wegen Dienst als Wärter in einem Konzentrationslager – ohne Beweise für seine direkte Beteiligung an den Morden.
Den Gerichten genügte für eine Verurteilung die Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Todesmaschinerie, etwa als Wachmann, Sekretärin oder Buchhalterin.
Seitdem haben deutsche Gerichte zu diesem Rechtsfall Urteile gefällt. Im Jahr 2020 wurde der ehemalige KZ-Wärter Stutthof, damals 93 Jahre alt, von einem Hamburger Gericht verurteilt. Der Angeklagte war an der Ermordung von mehr als 5.000 Menschen beteiligt.
Im Jahr 2016 wurde der ehemalige KZ-Wärter des KZ Auschwitz, Reinhold H., zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Der 94-jährige Rentner ist für seine Beteiligung an 170.000 Morden zwischen 1943 und 1944 verantwortlich, als er auch Mitglied der SS war.
Im Juni dieses Jahres wurde der 101-jährige ehemalige KZ-Wärter Josef S. von einem anderen Gericht zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Botschaft der deutschen Justiz ist klar: Auch „kleine Fische“ haben am Holocaust eine Rolle gespielt und sind dafür verantwortlich.